Eine Reise zurück in meine Jugend
Drei Monate schienen am Anfang eine unendlich lange Zeit. Mittlerweile bin ich schon zwei Monate unterwegs und die Zeit fliegt nur so dahin. Ich habe das Glück und das Privileg, für fünf Tage das Mekong-Delta als einziger Passagier auf einem sehr komfortabel eingerichteten Flussschiff zu erkunden. Der Kapitän, ein Matrose, der Schiffskoch und mein persönlicher Tourguide Quang Hi sorgen für mein Wohl.
Nebst den atemberaubenden landschaftlichen Schönheiten, der üppigen Vegetation und den Begegnungen mit den sehr freundlichen Delta-Bewohnern bleibt Zeit, die Erlebnisse der letzten Wochen in Vietnam Revue passieren zu lassen. Der rote Faden meiner Blogbeiträge ist die Begegnung mit Menschen – deshalb überlasse ich die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten und landschaftlichen Schönheiten anderen.
Als „einziger Passagier“ lebt es sich vorzüglich
Die jüngere Vergangenheit Vietnams beschäftigt mich. Wie lange war das Land wegen seiner unbestritten wichtigen strategischen Lage Spielball der Chinesen, Franzosen und Amerikaner! Wie viel Leid mussten die Menschen ertragen. Was mich sehr beeindruckt ist die Sanftheit, der Gleichmut und die echte Freundlichkeit der Vietnamesen. Grund zu Hass oder zumindest Abneigung gegenüber Fremden, speziell Europäern und Amerikanern hätten sie ja reichlich. Im Norden sind sie zwar verschlossener und zurückhaltend aber nie unfreundlich oder gleichgültig.
Nur schon der Besuch des Kriegsmuseums in Saigon treibt mir die Tränen in die Augen. Für meine Generation (die Woodstock-Generation) waren die Geschehnisse in Vietnam – nebst der Revolution in Kuba und dem 6-Tage-Krieg im Nahen Osten – sehr prägend. Wir waren hin und her gerissen zwischen einem starken Anti-USA-Gefühl und dem Mitgefühl für die jungen US-Soldaten (das Durchschnittsalter der Soldaten war 19 Jahre!
Paul Hardcastle – 19 (Official video) HQ
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Der Song „19“ von Paul Hardcastle erinnert an den Tod der jungen Amerikaner
Das Auswahlverfahren war grausam. In regelmässigen Abständen wurden Kandidaten per Losverfahren bestimmt. Wer Pech hatte wurde vom College nach einer sechswöchigen Schnellbleiche in den vietnamesischen Dschungel geschickt. Sie hatten keine Chance gegen die schlauen, gut ausgebildeten und organisierten Vietcong. Alles sehr junge Opfer eines sinnlosen Krieges fern der Heimat. Die Überlebenden sind bis an ihr Lebensende traumatisiert und zudem in der Heimat nach ihrer Rückkehr schlecht behandelt worden; ihr Schicksal wurde erst Jahre später in den USA thematisiert und einigermassen verarbeitet. Die USA lieben Gewinner, keine Verlierer.
Rührend ist die Begegnung mit einem betagten US-Bürger beim Frühstück im Majestic Hotel Saigon. Mit Tränen in den Augen erzählt er mir, dass er ein Überlebender des Vietnam-Kriegs sei. Nach langem Hin und Her habe er beschlossen, nach über fünfzig Jahren wieder nach Vietnam zu reisen. Er habe grosse Bedenken gehabt, wie er wohl aufgenommen würde. Für ihn grenze es an ein Wunder, wie lieb, nett und zuvorkommend er von allen Vietnamesen empfangen und bedient worden sei.
Er habe doch so ein schlechtes Gewissen ihnen gegenüber – wie alle seiner Generation. Aber die Vietnamesen erteilen uns eine Lektion in gelebter Vergebung – nicht nur auf dem Papier. Der Veteran wurde gar mehrmals dazu aufgefordert, möglichst viele Amerikaner zu motivieren, nach Vietnam zu kommen damit sie mit eigenen Augen sähen, wie sich das Land in der Zwischenzeit erholt und entwickelt habe.
Auf dem Flussschiff in den Sonnenuntergang
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die positive Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse im vollen Gange ist erlebe ich bei einem Gespräch mit dem Empfangschef des Victoria Chau Doc-Hotels. Mit glänzenden Augen und sichtlicher Genugtuung erzählt er mir, dass letzten Monat William Calley – der verantwortliche Commander für das My Lay-Massaker – nach Vietnam gekommen sei und sich bei jedem Überlebenden einzeln entschuldigt habe.
Doch zurück zur Gegenwart. Quang Hi ist ein intelligenter, sehr gut ausgebildeter Reiseführer. Sein Vater ist Uni-Professor und die Familie politisch engagiert. Er gehört der Nachkriegsgeneration an. Umso mehr interessiert mich seine Meinung zur vietnamesischen Geschichte und zum heutigen Vietnam. In seiner Familie gab es Sympathisanten beider Seiten. Sein Grossvater belieferte im Krieg in der Nacht die Vietcong mit in Bananenblättern abgepackten Lebensmitteln. Drei seiner vier Söhne, schlugen sich hingegen auf die Seite der Südvietnamesen und Amerikaner. Dass die Familie dabei nicht auseinanderbrach liegt gemäss Quang Hi am Naturell der Vietnamesen. Sie beurteilen solchen Situationen sehr pragmatisch, sind nicht nachtragend. Hauptsache man habe Frieden, zu Essen und zu Trinken.
Stets freundlich: Vietnamesen scheinen keinen Groll gegen Europäer zu haben
Sein Vater habe ihm geraten, Bücher zum Krieg aus allen möglichen Ecken zu lesen (aus USA, Vietnam und aus einer möglichst neutralen Sicht, z.B. der Schweiz) – so könne er sich am besten ein Bild über das wirklich Geschehen machen. Die Narben des Krieges im damals geteilten Land sind verheilt aber noch vorhanden. So empfindet noch mancher Südvietnamese die Niederlage gegen den kommunistischen Norden als unverzeihliche Schmach.
Andererseits sind die Nordvietnamesen auf die Mitbürger im Süden neidisch. Sie im Norden müssen in einem eher kargen Umfeld hart arbeiten um sich ein vernünftiges Einkommen zu sichern. „Die“ im Süden hingegen seien von der Natur mit dem sehr fruchtbaren Mekong Delta reich beschenkt worden, müssen deshalb nicht viel arbeiten um sehr gut (respektive besser) zu leben. Und dies trotz verlorenem Krieg…
Giannis persönlicher Guide: Quang Hi
Aber gerade im Mekong Delta gibt es noch heute sichtbare Zeichen des Krieges. Zum einen sind in den Dörfern alle 500 Meter Lautsprecher angebracht, welche früher die Bevölkerung vor bevorstehenden Bombenangriffen warnten. Auch heute noch werden täglich um 17 Uhr während 90 (!) Minuten Nachrichten verlesen – lokale, regionale, nationale und zuletzt noch internationale. Die Bevölkerung ist zwar entnervt, konnte bisher jedoch nur erreichen, dass die Nachrichten nicht auch um 5 Uhr in der Früh verlesen werden, wie es früher der Fall war.
Noch heute: Nachrichten per Lautsprecher
Im dichten Dschungel besuchen wir zudem ein ehemaliges Vietcong-Versteck. Lautlos fahren wir mit schlanken Booten durch die schmalen Kanäle. Wie in früheren Zeiten paddelt uns eine in schwarz bekleidete Frau durch das Dickicht hindurch. Das war auch während des Krieges der Fall. Frauen spielten eine wichtige Rolle für den Erfolg der Vietcong.
Tödlich: Im dichten Dschungel stellten die Vietcong den Amerikanern Fallen
Wir sehen, wie das Lager perfekt getarnt und für das ungeübte Auge „unsichtbar“ angelegt wurde. Auf einer Karte wird uns gezeigt, dass in unmittelbarer Nähe dieses Camps rund zehn USA-Stützpunkte waren. Und trotzdem wurde das Lager nie entdeckt! Ein weiteres Beispiel, wie hilflos die Amerikaner in ungewohnter Umgebung agierten und somit sichtlich keine Chance hatten, den Krieg zu gewinnen.
Quang Hi und ich einigen uns, das Thema Krieg hinter uns zu lassen und uns fortan mit dem heutigen Vietnam zu beschäftigen. Und das wird das Thema des nächsten Beitrages sein.
5 responses to Eine Reise zurück in meine Jugend
einfach einmal Danke für Deine Gedanken und dass Du uns an „Deinem“ Vietnam teilhaben lässt
Grossartig Gianni. Geniesse auch noch den dritten Monat 😉 ! Freue mich auf News! Liäbä Gruess, Ui
Habe Vietnam und die Vietnamesen genau gleich erlebt wie Du. Allerdings nach Bekannwerden mi der Polizei habe ich meine ganz positive Einstellung einwenig revidieren müssen. Freue mich schon auf Deinen nächsten Bericht und danke
für’s teilnehmen an Deiner Reise
Es ist immer wieder verammt unglaubich, deine interssante, intelligenten berichte mit voel historischen hintergründen zu lesen – complimenti!!!!
Goood morning oberglatt!
Liäbe gruess tschowa